Rede zum 1. August 2023, gehalten am 31. Juli 2023 auf dem Stoos, SZ
Ständerätin, Dr. Heidi Z‘graggen
Liebe Schweizerinnen und Schweizer,
Heute feiert ihr meinen 732. Geburtstag! Ja, ihr habt richtig gehört, seit 1291 sind es unglaubliche 732 Jahre Eidgenossenschaft.
Mythen zur Bildung der Willensnation
Es ist lange her, seit Uri, Schwyz und Unterwalden den Grundstein für die Eidgenossenschaft- für die Freiheit- haben. Mit Stolz feiere ich mit euch diesen besonderen Tag. In all den Jahrhunderte habe ich Vieles erlebt und gesehen – so auch das Jahr 1891.
Da beschloss der Bundesrat, das 600-Jahr-Jubiläum des Bundes von Uri, Schwyz und Unterwalden zu feiern. Doch wo? Schwyz? Ja, genau da, das verfügte der Bundesrat.
Das war aus Urner Sicht unerhört. Schon seit altersher wurde erzählt, dass der Rütlischwur an einem Mittwoch vor Martini, also im November, 1307, stattgefunden habe. Als dann 1758 der Bundesbrief von 1291 in Schwyz auftaucht, wurde dieser zum Gründungsdokument der Schweiz erklärt.
Könnt Ihr euch vorstellen, wie die Urner auf den Entscheid des Bundesrates reagierten? Mit Protest. Ohne Erfolg!
Also haben sie halt gezeigt, wer die wahre Führungsrolle bei der Gründung der Eidgenossenschaft hatte. Sie stellten grad zum Trotz den Wilhelm Tell als eindrucksvolles Denkmal in Altdorf auf. Und sie haben die Jahreszahl 1307 in den Sockel des Telldenkmals gemeisselt. Und, die steht da noch heute in Altdorf!
Was ihr zweifelt an Tell?
Tell mag Legende sein, doch für euch ist er doch ein Superheld, der unbeirrbar für Freiheit und Gerechtigkeit eintritt!
Ob ihr nun die Jahreszahl der "sturen Urnergrinden" vom November 1307 als mein Geburtsdatum oder das heute gültige offizielle Gründungsdatum vom 1. August 1291 aus Schwyz nehmt - feiert heute einfach die Eidgenossenschaft. Wobei ich als Zeugin der Ereignisse ein für allemal festhalten möchte: Beim Rütlischwur war es tatsächlich sehr kalt - hatten die Urner doch Recht?
Was sich da abspielte war erstaunlich. In ganz Europa rund um die damalige Eidgenossenschaft herum, bauten Fürsten ihre Herrschaften aus und bildeten von oben herab zentralistische Staaten. Und in der Urschweiz? Da passierte das Gegenteil. Die Schweiz ist bis heute ein Gebilde gewachsen von unten nach oben. Im Eid huldigte man nicht einem adligen Herrscher, sondern der Eid galt der eigenen Gemeinschaft:
"Wir wollen sein ein einzig' Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen."
Die Worte Schillers, die den Freiheits- und Gemeinschaftswillen beschreiben, berühren bis heute das Herz
Glücksforschung zum Ersten: Föderalismus macht glücklich
Ihr Schwyzer seid die ganz Wilden der alten Eidgenossenschaft gewesen (und ihr seid es ja noch heute)- es war ja neben Tell die Schwyzerin Getrud Stauffacher, die den Stachel zum Freiheitswillen setzte. Die Urner mussten damals oft mit ihrem Uristier und Harsthorn ausrücken, wenn die Schwyzer mal wieder das Höhenfeuer auf dem Fronalpstock entzündeten, um den Beistand der Bündnisgenosse einzufordern - vielleicht war es so bei der Schlacht am Morgarten.
Ihr könnt es ja selbst im Bundesbriefarchiv nachlesen. Müsst nicht einmal den Kanton verlassen - da steht, ihr habt einander in der Not zu helfen. Das ist bis heute gültig.
Darum zahlt Schwyz heute noch kräftig in den Finanzausgleich ein und die Urner nehmen es! Ja, euer Föderalismus!
Drei kleine Mädchen diskutieren darüber, wo denn die kleinen Kinder herkommen. Das deutsche Mädchen weiß sofort Bescheid: "Die kleinen Kinder bringt der Storch." Das französische Mädchen meint, dass es etwas mit der Liebe zwischen Papa und Mama zu tun habe. Nur das Schweizer Mädchen hat Schwierigkeiten mit der Antwort. Erst als die anderen beiden es drängen, meint es schließlich: "Bei uns in der Schweiz ist das von Kanton zu Kanton verschieden!"
Ihr lacht? Genau das macht der Föderalismus. Er macht glücklich. Er ist Grundlage für den Erfolg unseres Landes. Die Glücksforschung sagt, dass wir Schweizer zu den glücklichsten Menschen der Welt gehören. Das hat verschiedene Gründe, wie Alter, Gesundheit, Ausbildung, Wirtschaftslage und die Arbeit. Das ist die Basis.
Ein Glücksrezept der Schweiz liegt vor allem in starken, eigenständigen Kantonen, die miteinander wetteifern. Die Eidgenossenschaft ist seit altersher ein Staat von unten nach oben gewachsen. Mit einem möglichst grossen Spielraum auf der untersten Ebene, sodass der Bürger so nah wie möglich am Geschehen ist. Das trägt wesentlich zum Glück und Erfolg bei.
Bundesfeiertag am 1. August seit 1891 trotz Urner Protest
Meine lieben Schweizerinnen und Schweizer, ihr wisst natürlich, dass ich neben meinem ersten Geburtstag noch ein zweites Geburtstagsdatum habe.
Vor 175 Jahren, im Jahr 1848, wurde unsere Verfassung angenommen - ein bedeutender Meilenstein für die moderne Schweiz. Ursprünglich planten die siegreichen Liberalen nach dem Sonderbundskrieg einen zentralistischen Staat nur mit dem Nationalrat. Doch sie erkannten bald, dass dieser Ansatz nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Die Verankerung der Gemeinden und Kantone - ein Staatsaufbau von unten nach oben - erwies sich als zu bedeutend und stark. Die ursprünglich geplante zentralistische Struktur nur mit dem Nationalrat musste zugunsten des föderalistischen Ansatzes mit der Verankerung der Kantone angepasst werden. Der Ständerat als zweite Kammer im Parlament und das Ständemehr sind Ausdruck davon.
Jetzt fordert der Nationalrat einen zweiten Bundesfeiertag am 12. September um 1848 zu feiern. Das verstehe ich als alte Dame nicht.
Ich habe euch von 1891 erzählt, wo der 1. August zum ersten Mal als Nationalfeiertag zelebriert wurde. Es ging dabei Bundesrat und Parlament weniger darum, den Rütlischwur von 1291 oder Wilhelm Tell wieder aufleben zu lassen. Es stand die Versöhnung der siegreichen Liberalen mit den Verlierern des Sonderbundskrieg im Vordergrund. Die immer noch skeptischen ländlichen katholischen Kantone wollte man einbinden und für die Verfassung von 1848 zu gewinnen, wurde zum Beispiel 1859 der berühmte Gedenkstein für "den Sänger Tells" am Vierwaldstättersee errichtet. Weitere Inszenierungen der mythischen Anfänge der Eidgenossenschaft folgten: 1860 das Rütli, 1864 das Winkelried-Denkmal in Sempach, 1865 das von Stans, 1882 die Tellskapelle und 1895 das Telldenkmal in Altdorf, von dem ich euch auch erzählt habe.
Warum ein zweiter Bundesfeiertag? Warum nicht beim Bewährten bleiben? Die Geschichten vom Rütli, von Wilhelm Tell und vom Gotthard sind doch die Herzstücke, die euch als Nation verbinden und bewegen. Die wunderschöne "Wiege der Eidgenossenschaft" auf dem Rütli bleibt ein Symbol eurer Einzigartigkeit und ist das was euch verbindet.
Aber ich mache mir da keine Sorge der 1. August wird alleiniger Bundesfeiertag bleiben. Denn zum Glück gibt es den Ständerat, er wird wohl den 1. August als einziger Bundesfeiertag belassen. Nur schon, dass ihr nicht zweimal im Jahr Bundesfeierreden anhören müsst.
Mein bestes Datum ist sowieso der 7. Februar 1971. Warum? Da habt ihr endlich erkannt, welche wichtige Rolle die Frauen für die Schweiz spielen – Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts. Ich heisse ja auch DIE Eidgenossenschaft.
Eidgenössische Neutralität: Beitrag zum Gleichgewicht
Gott war in meinen Anfängen 6 Tage lang verschwunden, bis ihn Erzengel Gabriel endlich fand und ihn fragte: "Wo warst du die ganze Zeit?" Gott zeigt stolz auf die Erde und sagt: "Schau, was ich gemacht habe!" Als Gabriel fragt, was es ist, antwortet Gott: "Das ist die Erde. Sie ist ein Ort des Gleichgewichts! Heisse oder kalte Länder, arme oder reiche Länder, schöne und weniger schöne Länder. Alles muss immer im Gleichgewicht sein."
Gott erklärt mit Begeisterung weiter und zeigt auf verschiedene Orte. Dann zeigt er auf die Schweiz und sagt: "Das ist die beste Stelle der Erde! Traumhafte Seen, Wälder und Berghütten, nette Leute, intelligente, humorvolle und geschickte Menschen. Sie werden die beste Demokratie der Welt formen."
Auch Erzengel Gabriel ist begeistert über dieses Land. Aber dann fragt er: "Aber was ist mit dem Gleichgewicht, von dem du gesprochen hast?" Gott sagt mit einem Augenzwinkern: Keine Sorge, mein lieber Erzengel Gabriel, dass Gleichgewicht ist gewahrt, rundherum um dieses wunderbare Land ist, um das Gleichgewicht zu wahren, die EU!".
Ihr geht als innovative Schweiz euren Weg in der Mitte von Europa und erbringt grosse Leistungen im Interesse Europas. Ihr bietet als neutrales Land eure guten Dienste auf der ganzen Welt an. Diese Partnerschaft führt zum Gleichgewicht, soll auch andere Länder Nutzen bringen und als Friedensprojekt dienen.
Dabei seid ihr jetzt aber gehörig unter Druck!
Eure erste offizielle Neutralitätserklärung stammt von 1674. Die Tagsatzung erklärte damals offiziell: "... dass wir uns als ein Neutral Standt halten und wohl versorgen wollen!". Aber schon die Tagsatzungsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert stritten um die richtige Auslegung ihrer Neutralität.
Die jetzige Debatte um eure Neutralität ist also überhaupt nicht neu. Gerade in Zeiten grosser Konflikte und Kriege in der europäischen Geschichte habt ihr sie immer wieder diskutiert. Und sie wurde gerade in diesen Kriegszeiten immer wieder von den Grossmächten in Zweifel gezogen.
Ihr wurdet von kriegerischen Auseinandersetzungen in der jüngeren Geschichte bewahrt. Dass ihr das mit einem besonderen Einsatz im Bereich des Völkerrechts, die guten Dienste. auf humanitärer Ebene mit grosszügigen Hilfsmassnahmen und dem IKRK kompensiert, ist kluge Neutralitätspolitik und Teil des Gleichgewichts in Europa.
Ich frage euch: Ist es nicht das Wichtigste, euch klug vor Krieg zu bewahren? Ist nicht gerade heute ein neutraler Kleinstaat, der immer wieder Frieden einfordert Teil des Gleichgewichts? Überlegt selber... Ich finde: Mut zum Anderssein ist stark.
Eidgenossenschaft als mutige, zeitgemässe Influencerin des Anderssein
Wisst ihr, früher habe ich mir Sorgen gemacht, dass ich nicht mehr mit der Zeit gehen kann. Aber zum Glück habe ich Youtube entdeckt! Ja, ich gestehe, ich schaue heimlich die neuesten Trends an und gönne ich mir eine kleine Freude. ich schaue heimlich Youtube-Filmchen, wie "Die zehn schönsten Länder auf der Welt". Und glaubt es oder nicht, jedes Mal, wenn ich zur letzten Minute vorspule, lächle ich zufrieden, denn youtube sagt, das schönste Land von allen ist die Schweiz.
Doch ich muss gestehen, manchmal bedrücken mich diese Ranglisten auch ein wenig. Da ist die Schweiz nur auf Platz zwei, drei oder vier. Was Belgien soll die beste Schokolade haben? Was Island sicherstes Land? Was Luxemburg reichstes Land?
Habt ihr ein wenig nachgelassen? bleibt doch Influencer des Anderssein.
In all den Jahrhunderten habt ihr euch als Eidgenossenschaft immer weiterentwickelt und seid zu einem Land geworden, das Vielfalt und Offenheit akzeptiert. Menschen aus aller Welt haben hier eine Heimat gefunden und mit ihrer Arbeit zum Erfolg beigetragen. Weltoffenheit und Innovationsgeist führten zu Erfolg. Und auch die Weltoffenheit stammt - glaubt es oder nicht- aus den Tälern aus Uri und Schwyz. Schon im 13. Jahrhundert verkauften die Urner und Schwyzer Bergbauern die ersten Schweizer Käselaibe nach Norditalien. Der erste innovative Exportschlager war Hartkäse.
Glücksforscher zum Zweiten: Direkte Demokratie macht glücklich
Ihr seid glücklich erstens wegen dem Föderalismus und zweitens wegen der direkten Demokratie. Das beweisen die Glücksforscher. Viermal im Jahr diskutiert ihr des langen und breiten über Vorlagen, folgt der Mehrheit und binden sogleich die Minderheit wieder ein. Und das Gute daran ist, die Verantwortung für die Entscheide liegen beim Volk.
Die Entscheidungen im Parlament oben in Bern sind darum immer nur vorläufig. Die müssen, ob im Bundesrat, im Ständerat oder Nationalrat, ob die Vorlage vor dem Volk verhebet. Das geht so langsam. Und Ihr habt schon manche Dummheit nicht gemacht. Das hat schon Einstein erkannt: „Im Falle eines Weltuntergangs wäre ich am Liebsten in der Schweiz. Dort geschieht alles später“ (Albert Einstein).
Und das Ergebnis: Die Schweiz steht im internationalen Vergleich hervorragend da.
Eigenossenschaft: Erfolgreich dank dem Willen aller
In all den Erzählungen und Legenden von Tell, der Stauffacherin, vom Rütli und vom Gotthard, sowie in der Geschichte der Verfassung von 1848 und den Entwicklungen der modernen Zeit - mit Höhen wie der Einführung des Frauenstimmrechts und auch Tiefen - zeigt sich die unvergleichliche Vielfalt der Schweiz. Die politischen Institutionen wie die direkte Demokratie und der Föderalismus haben zu grossem wirtschaftlichen Erfolg und sozialer Sicherheit geführt.
Die atemberaubende Natur und sicherlich auch ein Quäntchen Glück bilden den eindrucksvollen Rahmen.
Die wahre Kraft offenbart sich im Willen und Engagement von Frauen und Männern, die diese Einzigartigkeit bewahren, die Freiheit schätzen und standhaft zum Anderssein stehen. Voller Zuversicht blicke ich so in die Zukunft und freue mich auf viele weitere Geburtstage.
Hochachtungsvoll Eure Eidgenossenschaft, am 31. Juli 2023
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